Речь перед собранием партийных лидеров республик и областей Советского Союза. Москва, 11 февраля 1930

Molotov, Vjaceslav Michajlovic: Речь перед собранием партийных лидеров республик и областей Советского Союза. Москва, 11 февраля 1930 [1]


[1] Rossijskij Gosudarstvennyj Archiv Social’no-Politiceskoj Istorii Moskva (RGASPI), Bestand 82, Findbuch 2, Akte 60, Auszüge betreffen die Blätter 129-130, 134, 139-141, 152-153.


 
Zugehöriger Essay:
Jörg Baberowski: Die Kollektivierung der Landwirtschaft und der Terror gegen die Kulaken
Dieser Essay ist ab November 2007 im Themenportal Europäische Geschichte verfügbar.
Die Druckversion des Essays findet sich in Hohls, Rüdiger; Schröder, Iris; Siegrist, Hannes (Hg.), Europa und die Europäer. Quellen und Essays zur modernen europäischen Geschichte, Stuttgart: Franz Steiner Verlag 2005.

Die Kollektivierung der Landwirtschaft und der Terror gegen die Kulaken[1]

Von Jörg Baberowski

Vjaceslav Michajlovic Molotov (1890-1986) war im Jahre 1930 nicht nur Vorsitzender des Rates der Volkskommissare. Er gehörte auch dem Politbüro und dem Sekretariat des Zentralkomitees der kommunistischen Partei an. Molotovs Einfluss wuchs mit der Macht Stalins, dessen Alleinherrschaft 1930 schon nicht mehr in Zweifel stand. In der Partei galt Molotov als „Stellvertreter“ Stalins, als treuer Gefolgsmann, der sich dem Willen des Diktators bedingungslos unterwarf. Molotov war die Stimme Stalins. Wo er das Wort ergriff, sprach er aus, was der Diktator ihm aufgetragen hatte.[2]So war es auch im Februar 1930, als Molotov den Parteisekretären der Sowjetrepubliken erläuterte, wie sich Stalin, der an der Versammlung teilnahm, den Vollzug der Kollektivierung in der Sowjetunion vorstellte. Die im Folgenden in Auszügen abgedruckte Rede verrät uns, wie die Täter im Zentrum der Macht verstanden, was sie anderen antaten. Es vergingen freilich mehr als 70 Jahre, bis der Archivbestand, zu dem dieses Dokument gehört, Historikern zugänglich gemacht werden sollte.

Molotovs Ansprache vor den lokalen Parteiführern im Februar 1930 fiel mit dem Beginn des Massenterrors zusammen, den das sowjetische Regime gegen die Bauern entfachte. Was in ihr gesagt wird, ist nur im Kontext des Geschehens, das sie kommentiert, verständlich. Zu Beginn des Jahres 1928, anlässlich einer Getreidebeschaffungskrise, hatten Stalin und seine radikalen Anhänger im Politbüro den Beschluss gefasst, mit Gewalt gegen Bauern vorzugehen, die Getreide zurückhielten, das der Staat für die Versorgung der Städte und für den Export benötigte. Wo Bauern sich der Getreideablieferung verweigerten, handelten sie aus ökonomischem Kalkül. Sie verkauften ihr Getreide nur jenen, die angemessene Preise zahlten. Und weil es in der Sowjetunion nur wenig Brauchbares zu kaufen gab, die staatlichen Ankaufpreise zu gering waren, zogen zahlreiche Bauern es vor, ihr Getreide auf den Schwarzmarkt zu bringen oder selbst zu verbrauchen. Stalin und seine Gefolgsleute verstanden, was ihnen aus der Provinz gemeldet wurde, als einen Versuch der Bauern, sich gegen das Regime zu erheben. Diese Rebellion musste der Staat mit überlegenen Gewaltmitteln im Keim ersticken. Daran jedenfalls ließ Stalin keinen Zweifel aufkommen.

Wo Widerstand aufschien, arbeitete der Klassenfeind. Dieser Feind war überall, er konnte, wenn die Aufmerksamkeit nachließ, auch in die Apparate des Regimes eindringen und sie von innen zerstören. Deshalb versuchten die Bolschewiki, den Kampf um das Getreide mit dem Kampf gegen vermeintliche Großbauern, die „Kulaken“, zu verbinden. Zu Beginn des Jahres 1928 reiste Stalin selbst nach Sibirien, um die lokalen Partei- und Sicherheitsorgane auf den neuen Kurs einzustimmen: Es galt nunmehr, die Bauern zu zwingen, ihr Getreide den staatlichen Beschaffungsbrigaden auszuliefern sowie die Kulaken aus den Dorfsowjets auszuschließen und sie mit ruinösen Strafsteuern zu belegen.[3]Auf diese Weise aber verschärften die Bolschewiki die Getreidebeschaffungskrise, denn die Bauern lieferten weniger, sie ernteten weniger und sie leisteten Widerstand. Aber Stalin und seine Anhänger sahen nur, was ihrer Perspektive auf das Leben entsprach. Und weil sie das eigene Bedeutungsuniversum schon nicht mehr verlassen konnten, entkamen sie ihren selbst geschaffenen Fiktionen nicht mehr: dass nämlich die Partei von bösartigen Saboteuren und Feinden umstellt war, die an der Destruktion der Sowjetunion arbeiteten. Der Kulak aber lebte nur in den Köpfen der Parteiführer, im Leben der Bauern kam er nicht vor.[4]Nur so wird die Eskalation der Gewalt gegen die Bauern verständlich, die die Rede Molotovs dokumentiert.

Die Bolschewiki regierten, aber sie übten in den Dörfern der Sowjetunion keine Macht aus, weil es ihnen an Übermittlern ihrer Vorstellungen fehlte. Im Dorf blieben die Bolschewiki ohne Einfluss. Sie waren sprachlos und ohnmächtig. So aber konnte sich das Regime weder in den Besitz des Getreides bringen noch konnte es die Bauern „zivilisieren“ und der neuen Ordnung unterwerfen.[5]Diesem Zweck sollte die Kolchose dienen. Sie ermöglichte es dem Regime, sich die Ernte der Bauern anzueignen und die Dorfbewohner unter ständige staatliche Kontrolle zu stellen. Die Idee, die Bauern zu enteignen und in Kollektivwirtschaften einzusperren, kam 1928 auf. Stalin setzte die lokalen Parteiführer unter Druck und zwang sie in einen Wettbewerb um die Beschaffung von Getreide und die Einrichtung von Kolchosen. Was 1929 begonnen hatte, eskalierte zu Beginn 1930, als aus den Städten entsandte Arbeiterbrigaden und Kommunisten die Dörfer überfielen und die Bauern enteigneten. Die Kollektivierungsquoten erreichten schwindelnde Höhen, wenngleich, was als Kollektivierung ausgegeben wurde, anfangs kaum mehr war als eine „wilde“ Enteignungs- und Terrorkampagne, die sich nur durch die Anwesenheit der städtischen Kommunisten und GPU-Truppen am Leben erhielt. Die Bauern empfanden, was das Regime ihnen antat, als Wiederkehr des Antichristen und Strafe Gottes. Sie schlachteten ihr Vieh, verbrannten ihre Ernte, sie flohen zu Hunderttausenden aus den Dörfern in die Städte, und wo sie blieben, leisteten sie Widerstand. In manchen Regionen, wie in Sibirien, in der Ukraine und im Kaukasus, brach die Staatsgewalt zusammen. Im März 1930, also kurz nach Molotovs Brandrede, stand das Regime mit dem Rücken zur Wand.[6]

Stalin und seine Helfer sahen im bäuerlichen Widerstand eine Bestätigung ihrer Wahnvorstellungen von einer „sozial verunreinigten“ Umwelt. Für sie reflektierten die Aufstandsbewegungen nicht nur die Unzufriedenheit der Bauern. Aus der Rebellion sprach die Sprache des Feindes. Dieser Feind war in Kollektiven organisiert, und deshalb konnte er auch nur kollektiv beseitigt werden. So kam es, dass die Bolschewiki die Kollektivierung mit der Vernichtung sozialer Kollektive verbanden. Im November 1929 hatte Molotov auf einer Plenarsitzung des Zentralkomitees erklärt, Kulaken müssten als „bösartige Feinde“ aus den Kolchosen ausgeschlossen werden.[7]Im Dezember kam es zu einer weiteren Eskalation, als Stalin öffentlich erklärte, es komme nunmehr darauf an, die Kulaken als Klasse zu „liquidieren“. Stalins Terrorbefehl blieb nicht ohne Folgen. Am 30. Januar 1930 schon versandte das Politbüro einen „geheimen Beschluß“, in dem es den lokalen Parteikomitees mitteilte, wie mit den registrierten Kulaken zu verfahren sei. Konterrevolutionäre und Bauern, die aktiven Widerstand gegen die Kollektivierung geleistet hätten, müssten in Konzentrationslager eingewiesen oder erschossen, alle übrigen Kulaken sollten verhaftet und nach Sibirien oder Zentralasien deportiert werden. Bis Ende Mai 1930 seien 60.000 Bauern in Konzentrationslager einzuweisen, 150.000 seien zu deportieren, wie das Politbüro in seinem Beschluss präzisierte. Dabei stand es im Ermessen der lokalen Dienststellen, selbst zu entscheiden, wer zu verhaften, wer zu erschießen und wer zu verbannen sei.[8]

Das Regime beauftragte sogenannte Arbeiterbrigaden, die aus den Städten in die Dörfer entsandt wurden, das dringend benötigte Getreide zu beschaffen. Darüber hinaus oblag diesen Brigaden, die Kulaken zu verhaften und auszusiedeln. Mehr als 25.000 solcher Aktivisten hielten sich Anfang 1930 in den Dörfern der Sowjetunion auf, zumeist junge, fanatisierte Arbeiter-Kommunisten und Komsomolzen, die die Bauern mitleidlos terrorisierten.[9]Stalin aber gab sich mit der Eigeninitiative lokaler Aktivisten nicht zufrieden. Er entsandte seine wichtigsten Gefolgsleute aus dem Politbüro in die Provinzen, damit sie überprüften, ob die Beschlüsse des Zentrums auch wirklich ausgeführt wurden. Mitte Februar 1930 wurden die Parteiführer der Republiken und Gebiete nach Moskau gerufen, wo Molotov sie aufforderte, den Terror gegen Kulaken und Feinde der Sowjetmacht zu verschärfen.

Molotov war, darin glich er Stalin, ein skrupelloser Gewalttäter, der, was er anderen antat, nicht nur als reinigendes Gewitter verstand, das die Gesellschaft von ihren Feinden erlöste. Gewalt und Terror gehörten für ihn zur Essenz des bolschewistischen Herrschaftsstils. Hier sprach kein kühler Technokrat, sondern ein Terrorist, der „Schweinehunde“ in den Apparaten erschießen und Kulaken in Flüssen ersäufen lassen wollte. Wer dem Terror vorgriff, der Führung entgegenarbeitete und dem Zentrum maßlose Vorschläge unterbreitete, wie die Mitglieder des Gebietsparteikomitees im Nordkaukasus, durfte mit seiner Zustimmung rechnen. „Für den Anfang ist das schon mal was“, und was immer die lokalen Parteikomitees sich in dieser Frage ausdächten, werde im Zentrum „begrüßt“, so kommentierte Molotov den vorauseilenden Gehorsam der Genossen aus dem Kaukasus.[10] Es waren diese Signale, die die Partei- und Sicherheitsorgane in den Provinzen dazu veranlassten, maßlosen Terror gegen die Bauern auszuüben.

Die Verschickung der Kulaken folgte keiner ökonomischen Rationalität. Molotov selbst räumte ein, dass das Politbüro nicht wisse, was mit den Deportierten geschehen solle. Für ihn schien der Zweck erfüllt, wenn die Kolchosen von ihren Feinden befreit, wenn die Funktionäre in den Apparaten und in den Dorfsowjets in Furcht und Schrecken versetzt wurden. Stalin und Molotov kam es darauf an, die Lebensweise der Bauern, das Russland der „Ikonen und Kakerlaken“, wie Lev Trockij es einst genannt hatte, für immer zu zerstören. Die in den Dörfern zurückgebliebenen Bauernfamilien wurden nicht nur in Kolchosen eingesperrt und an die Scholle gebunden. Man wollte sie brechen und „zersetzen“. Diesem Zweck ordneten die führenden Bolschewiki alle übrigen Erwägungen unter.

Molotov litt nicht an Gewissensqualen. Zwar warnte er die Zuhörer am Ende seiner Ansprache davor, auszuplaudern, was das Politbüro beschlossen habe. Aber diese Geheimhaltung stand nicht im Dienst des Gewissens. Was in der Parteiführung beschlossen wurde, musste exklusives Wissen bleiben. Denn jenseits der Partei herrschte der Feind. Die Loyalität der Stalinschen Gefolgschaft beruhte darauf, dass sie Geheimnisse mit dem Führer teilte und dass sie über ein Wissen verfügte, in dessen Besitz sonst niemand gelangen konnte.

Molotov sah auch vierzig Jahre später, als er mit dem Journalisten Feliks Cuev über seine Rolle in der Stalin-Zeit sprach, keinen Grund, warum er sich von den Terrorbefehlen der Vergangenheit distanzieren sollte. Er urteilte über die Ausweisung der Kulaken in den 1970er Jahren nicht anders als er es 1930 getan hatte. Für ihn war solcher Terror eine historisch notwendige Tat.[11]Was Molotov im Februar 1930 zum Vortrag brachte, war eine Repräsentation der totalitären Versuchung des 20. Jahrhunderts. In ihr verband sich das Streben nach eindeutigen, „europäischen“ Ordnungen mit dem Wahn, es müssten feindliche Kollektive vernichtet werden, die sich in diese Ordnungen nicht einfügen ließen. Deshalb führte die Vorstellung vom Staat als Gärtner unter sowjetischen Bedingungen in den Massenterror.[12]



[1] Essay zur Quelle Nr. 5.2, Rede Molotovs vor einer Versammlung von Parteichefs der Republiken und Gebiete der Sowjetunion in Moskau am 11. Februar 1930.

[2] Vgl. dazu den Briefwechsel zwischen Stalin und Molotov und die Erinnerung von Stalins Sekretär Boris Bažanov: Lih, Lars; Naumow, Oleg; Chlewnjuk, Oleg (Hg.), Stalin. Briefe an Molotov. 1925-1936, Berlin 1996; Basanov, Boris, Ich war Stalins Sekretär, Frankfurt am Main 1977.

[3] Hughes, James R., Stalin, Siberia and the crisis of the New Economic Policy, Cambridge 1991; Ders., Stalinism in a Russian province. Collectivization and dekulakization in Siberia, London 1996.

[4] Lewin, Moshe, Who was the Soviet Kulak?, in: Ders., The Making of the Soviet System. Essays in the Social History of Interwar Russia, New York 1985, S. 121-141; Altrichter, Helmut, Die Bauern von Tver. Vom Leben auf dem russischen Dorfe zwischen Revolution und Kollektivierung, München 1984; Wehner, Markus, Bauernpolitik im proletarischen Staat. Die Bauernfrage als zentrales Problem der sowjetischen Innenpolitik 1921-1928, Köln 1998.

[5] Pethybridge, Roger, One step backwards, Two steps forward. Soviet society and politics under the New Economic Policy, Oxford 1990.

[6] Tragedija sovetskoj derevni. Kollektivizacija i raskulacivanie. Dokumenty i materialy, 5 Bde., Moskau 1999-2004, hier Bd. 2, Moskau 2000; Ivnickij, Nikolaj A., Kollektivizacija i raskulacivanie (nacalo 30-ch godov), Moskau 1996; Viola, Lynne, Peasant rebels under Stalin. Collectivization and the culture of peasant resistance, Oxford 1996; Baberowski, Jörg, Der Feind ist überall. Stalinismus im Kaukasus, München 2003, S. 691-721.

[7] Plenum CK VKP (B) 10-17 nojabrja 1929 g., in: Kak lomali NEP. Stenogrammy plenumov CK VKP(B) 1928-1929, Bd. 5, Moskau 2000, S. 373.

[8] RGASPI, Bestand 17, Findbuch 162 (osobaja papka), Akte 8, Blatt 64-69; Tragedija (wie Anm. 7), Bd. 2, S. 163-167; Baberowski, Jörg, Stalinismus „von oben“. Kulakendeportationen in der Sowjetunion 1929-1933, in: Jahrbücher für Geschichte Osteuropas 46 (1998), S. 572-595.

[9] Kopelew, Lew, Und schuf mir einen Götzen. Lehrjahre eines Kommunisten, 2. Aufl., München 1981, S. 289-337 (Komsomol = Kommunistischer Jugendverband).

[10] RGASPI, Bestand 82, Findbuch 2, Akte 60, Blatt 152-153.

[11] Cuev, Feliks, Sto sorok besed s Molotovym. Iz dnevnika F. Cueva, Moskau 1991.

[12] Bauman, Zygmunt, Moderne und Ambivalenz. Das Ende der Eindeutigkeit, Frankfurt am Main 1995, S. 29-30, 61.

 


Literaturhinweise:
  • Baberowski, Jörg, Der rote Terror. Die Geschichte des Stalinismus, 2. Aufl., München 2004
  • Fitzpatrick, Stalin´s peasants. Resistance and survival in the Russian village after collectivization, Oxford 1994
  • Lih, Lars; Naumow, Oleg; Chlewnjuk, Oleg (Hg.), Stalin. Briefe an Molotov. 1925-1936, Berlin 1996
  • Tragedija sovetskoj derevni. Kollektivizacija i raskulacivanie. Dokumenty i materialy, 5 Bde., Moskau 1999-2004
  • Viola, Lynne, Peasant rebels under Stalin. Collectivization and the culture of peasant resistance, Oxford 1996
Quelle zum Essay
Die Kollektivierung der Landwirtschaft und der Terror gegen die Kulaken
( 2006 )
Zitation
Речь перед собранием партийных лидеров республик и областей Советского Союза. Москва, 11 февраля 1930, in: Themenportal Europäische Geschichte, 2006, <www.europa.clio-online.de/quelle/id/q63-28260>.
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